Der Militärexperte Thomas C. Theiner schildert die aktuelle Situation im Kriegsgebiet – und erklärt, warum Putin den Krieg bereits verloren hat.
Herr Theiner, vor genau einem Jahr ist Russland in die Ukraine einmarschiert und hat damit den schlimmsten Krieg in Europa seit 1945 ausgelöst. Ein Ende ist nicht absehbar. In welche Richtung entwickelt sich der Krieg?
Thomas C. Theiner: Der russische Präsident Wladimir Putin hat am Dienstag eine Rede gehalten, bei der er nochmals klar gesagt hat, dass er keine Verhandlungen, sondern eine vollkommene Unterwerfung der Ukraine will. Er glaubt immer noch, dass er diesen Krieg gewinnen kann. So wird er weiterhin ohne Rücksicht auf Verluste Menschenmassen an die Front werfen und weiter versuchen, den Westen zu spalten. Der Westen muss mit Waffen und Munition gegenhalten, denn wenn Putin diesen Krieg gewinnt, wird er immer neue Kriege beginnen. Dies ist ja bereits der fünfte Krieg, den er angefangen hat. Der Weg zum Frieden führt über eine krachende Niederlage der Russen am Schlachtfeld. Eine Niederlage die selbst ein Putin nicht mehr wegleugnen kann.
Der Abnutzungskrieg geht also weiter. Was kann den Verlauf dieses Krieges beeinflussen?
Viel zu lange klammerten sich europäische Regierung die Hoffnung, dass z.B. Panzerlieferungen vermeidbar sind und Putin zur Einsicht kommen würde. Erst diesen Jänner haben unsere Politiker endlich verstanden, dass Putin diesen Krieg unbedingt weiterführen, und immer brutaler weiterführen will. Dabei hat Russland den Krieg schon längst verloren – militärisch bereits im März 2022 als die Russen aus der Nordukraine flüchten mussten. Mittlerweile haben die Russen den Krieg auch wirtschaftlich verloren. Keiner braucht mehr russisches Gas und Öl. Die russische Wirtschaft bricht nun massiv ein. Putin selbst behauptet, dass der Rückgang nur zwei Prozent sei, aber seit einem halben Jahr werden vom russischen Finanzministerium keine Daten mehr veröffentlicht. In Wahrheit sind es wohl rund 20 Prozent und mittlerweile gibt Putin über 50 Prozent des rapiden schrumpfenden Staatshaushaltes für den Krieg aus. Aber mit der Annektierung von fünf ukrainischen Provinzen hat sich Putin in eine Sackgasse manövriert. Er betont immer wieder, dass diese nun auf ewig russisch seien. Frieden gibt es erst sobald die russische Armee aus diesen Provinzen vertrieben wurde und dafür brauchen die Ukrainer Panzer, Schützenpanzer, Haubitzen, usw. Es kann auch Frieden geben, falls Putin von seinen Generälen weggeputscht wird. Aber dafür braucht es noch mehr tote russische Soldaten – denn über 120.000 tote russische Soldaten haben weder Putin zur Vernunft gebracht noch einen seiner Generäle zum Putschen animiert.
Letzthin hat der Überraschungsbesuch von Joe Biden für viel Aufsehen gesorgt. Geht die Bedeutung dieses Besuches über reine Symbolik hinaus?
Für die Ukrainer waren es zwei Besuche enorm wichtig: zum einen der von Boris Johnson am 10. April des vorigen Jahres. Die Straßen Kyivs waren menschenleer. Nur Johnson und Selenskyj sind durch die Straßen spaziert. Damals war das ein Signal, dass es Länder gibt, die die Ukraine nicht aufgeben werden und sich vor Putins Dröhnungen nicht fürchten. Dass nun auch Biden die Ukraine besucht und trotz Luftalarms mit Selenskyj durch die Stadt spaziert ist zeigt den Ukrainern, dass wirklich der ganze Westen (außer Ungarn und Österreich) ihnen beistehen. Neben der Symbolik hat Biden auch neue Waffen mitgebracht. Die erste Kriegswoche überstanden die Ukrainer durch englische Waffenlieferungen, aber seitdem sind es die Amerikaner, die mit massiven Waffenlieferungen garantieren, dass das ukrainische Volk überlebt. Ohne diese Lieferungen hätte Putin noch viel mehr erobert. Massaker wie in Butscha oder dem Erdboden gleichgemachte Städte wie Irpin und Mariupol hätten sich Dutzendfach wiederholt. Wir Europäer müssen Amerikanern und Ukrainern dankbar – amerikanische Steuern und ukrainisches Blut bewahren die EU vor einem Angriff Putins. Denn hätte Putin die Ukraine leicht erobert, dann hätte er noch gleich Moldawien und Weißrussland besetzt und dann die baltischen Staaten angegriffen. Und dann hätte Italien auch junge Südtiroler einziehen und in den Krieg nach Galizien und in die Karpaten schicken müssen.
Wie ist die Situation in der Ukraine?
In Europa denken wir „Schlimm so ein Krieg“; dabei sich kaum einer vorstellen, wie schlimm es denn Menschen der Ukraine tatsächlich geht. Freunde von mir, schlafen jede zweite Nacht mit ihren Kindern in der Garage, weil Putin Charkiw mit Streubomben bombardieren lässt. Viele Ukrainer haben nur unregelmäßig Strom, Wasser und Heizung, weil Putin die gesamte Infrastruktur bombardieren lässt. Alle Grenzdörfer mussten evakuiert werden, weil die Russen mit Mörsern auf die Bauernhöfe schießen. All das sind übrigens Kriegsverbrechen. Ich kenne Menschen, deren Vater in Mariupol von den Russen erschossen wurde, weil die Russen herausfanden, dass der Sohn auf ukrainischer Seite kämpft. Ich kenne eine jüdische Familie aus Donezk, deren Tochter seit neun Jahren nicht mehr bei ihren Eltern war, da ihr als Ukrainisch-schreibender Journalistin in Donezk Folter und Tod drohen. Vor allem für Menschen unter russischer Besatzung war der Besuch Bidens so wichtig – er ist der Hoffnungsschimmer auf Befreiung.
Sie kennen die Situation vor Ort gut. Wie kann man sich die Lage in den von Russland besetzten Gebieten vorstellen?
In Butscha haben die Russen als erstes den Schuldirektor und die Bürgermeisterin mit ihrer Familie abgeholt und im Wald erschossen. Anschließend sind sie von Haus zu Haus mit Fahndungslisten und haben jeden erschossen, der pro-ukrainisch und im Sozialleben aktiv war. Die letzten Diktaturen, die so gehandelt haben, waren die Deutschen die 1939 in Polen 30.000 Zivilisten ermordet haben, und die Sowjets die 1939 im frisch besetzten Baltikum Tausende ermordeten und 130.000 nach Sibirien deportierten. Putin hat von Anfang an einen Genozid geplant. Er hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er alle „Nazis“ in der Ukraine vernichten will, und Nazis sind für ihn alle Menschen, die nicht Russe sein wollen. Wenn ich dann in der Tageszeitung oder anderswo Leserbriefe finde, die den russischen Einmarsch mit der Osterweiterung der NATO begründen, dann kann ich nur sagen: Russland hat an jedem seiner Nachbarvölker irgendwann in der Geschichte Völkermord begangen. An jedem! Keines dieser Völker will jemals wieder unter russische Herrschaft. Denn ein russischer Einmarsch geht immer einher mit Vertreibung, Massenerschießungen und Verwüstung der Städte – denken wir nur an Tschetschenien 1999. Und dem folgt dann immer eine Russifizierung, die weit brutaler ist als Mussolinis Italianisierung.
Inwiefern brutaler?
In den von Russland besetzten Gebiete wurden alle ukrainischen Bücher verbrannt, alle ukrainischen Straßennamen und Flurnamen getilgt, Ortschaften umbenannt, Bürgermeister, Bibliothekare, und Lehrer wurden nach Russland deportiert und durch regime-treue Russen ersetzt. Nun sind Kinder verpflichtet, russische Schule zu besuchen. Eltern, die sich weigern, werden die Kinder weggenommen und in Russland zur Adoption freigegeben. In der letzten Woche hat Putin die Obfrau des russischen „Kinderschutzes“ empfangen. Diese hat stolz berichtet, dass bisher 19.000 Kinder von nicht-loyalen Eltern aus der Südukraine entführt wurden und nun ordentlich russisch erzogen würden. Das wäre in etwa so als ob sämtliche Bozner Grundschulkinder nach Sizilien wegadoptiert würden. Die Russen begehen derzeit Verbrechen an der Menschheit. Dafür wurden die führenden Nazis in Nürnberg verurteilt und dann gehängt. Wer sich also dafür ausspricht, den Russen diese Gebiete zu überlassen, spricht sich für Verbrechen an der Menschheit aus, spricht sich für Völkermord aus.
Die Ukraine befürchtet zum Jahrestag eine massive russische Gegenoffensive. Kommt es dazu?
Die Russen greifen seit rund zehn Tagen an, fahren sich dabei aber fest. Die Russen haben bisher nachweislich um die 9.000 schwere Waffensysteme wie Panzer, Haubitzen, usw. verloren und greifen daher fast nur noch mit Infanterie an, etwa in Bakhmut. Im Herbst hat Putin ja für diese menschlichen Wellenangriffe in den ärmsten Gebieten Russlands 500.000 Männer mobilisiert, die wurden allerdings weder richtig ausgebildet noch richtig ausgerüstet. Man sieht nun russische Angriffe mit gerade mal sechs Panzern, die alle im selben Minenfeld in die Luft fliegen. Danach kommen russische Soldaten und laufen ins ukrainische Maschinengewehr- und Artilleriefeuer. Aber dem Kreml sind diese Verluste egal. So war es in Russland immer schon. Die russische Offensive läuft also bereits, allerdings wird es ohne schwere Ausrüstung nix. Man verheizt nur massiv Soldaten an der Front – so um die 1.000 pro Tag, und dazu noch drei Mal so viele Verwundete. Die russischen Soldaten wissen nicht, was sie tun sollen. Vor ihnen liegt ein Mienenfeld, hinter ihnen sind russische Sperreinheiten aus Tschetschenien und Militärpolizei. Russen, die sich ergeben und den Russen wieder in die Hände fallen, wird vor laufender Kamera mit dem Vorschlaghammer der Schädel eingeschlagen. Also erfrieren massenweise russische Soldaten lieber in der Nacht im Niemandsland der Front. Am nächsten Tag schicken dann Putins Generäle neues Kanonenfutter nach vorn, in der Hoffnung, dass irgendwann den Ukrainern Minen und Munition ausgehen. Russland ist außerhalb von Moskau bettelarm. Aus diesen Gegenden holt Putin sein Kanonenfutter – nicht aus Moskau oder St. Petersburg, wo es Proteste geben könnte, die das Regime gefährden. Und somit ist es dem Kreml absolut egal wie viele der Mobilisierten sterben.
In den letzten Tagen wurde nach den Panzerlieferungen auch über die Lieferung von Kampfjets debattiert. Welchen Einfluss haben diese auf den Krieg?
Wichtig wären Kampfjets oder weitreichende Raketen. Um die Russen schnell zu besiegen, braucht die Ukraine Waffen, welche in der Tiefe hinter den russischen Stellungen Kommandozentren, Depots, Munitionslager usw. zerstören können. Damit erschwert man nämlich die Logistik des Gegners. Wenn die Russen ihren Nachschub über eine Distanz von zehn Kilometer liefern müssen, kann ein Lkw relativ häufig fahren. Wenn sie aber 90 oder 100 Kilometer fahren müssen und alle Brücken auf der Strecke zerstört sind, gibt es deutlich weniger Transporte. Mit Kampfflugzeugen oder ATACMS Raketen müssten die Russen sogar 300 Kilometer weit hinter der Front ihr Material lagern. Bei 300 km und Dutzenden zerstörten Brücken machen Lkw pro Tag bestenfalls eine Fahrt. Dadurch würde die gesamte russische Logistik zusammenbrechen. Ohne Logistik kann eine Armee nicht kämpfen, da es an Munition, Treibstoff, Essen, usw. fehlt. Und den Russen gehen bereits jetzt die Lkw aus, Kampfjets würden somit das Ende des Krieges beschleunigen und dadurch paradoxerweise Leben retten: russische Soldaten, die halbwegs versorgt sind führen einen selbstmörderischen Angriffsbefehl aus, russische Soldaten die nichts im Magen haben, erschießen, wie 1917, ihre Offiziere und gehen heim. Aber der Westen zögert wieder Mal. Bei Waffenlieferungen funktioniert eine Salamitaktik nicht. Man muss die Wirtschaft anwerfen und klotzen, nicht kleckern.
Auf russischer Seite wird hingegen mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht. Eine realistische Gefahr?
Es gibt zwei Arten von Nuklearwaffen: taktische und strategische. Mit strategischen Nuklearwaffen zerstört man eine Stadt wie Kyiv, Warschau oder Berlin. Das wäre ein Tabu-Bruch, mit dem Russland sich zum globalen Paria machen würde. Das wäre wie ein Holocaust. Und die Ukrainer würden nicht aufgeben – sie würden nur noch verbissener darum kämpfen, nie mehr unter russische Herrschaft zu kommen. Auch die russischen Generäle verstehen, dass so was nichts bringt. Taktische Nuklearwaffen werden im Gefechtsfeld eingesetzt. Im kalten Krieg war z.B. die NATO-Strategie, bei einem Einmarsch der Sowjets über Kärnten ins Pustertal, zwischen Bruneck und Innichen dutzende taktische Atomsprengköpfe einzusetzen, um alles zu verseuchen, sodass dann kein Durchmarsch mehr stattfinden könnte. Taktische Nuklearwaffen sind deshalb auch keine Option für die Russen, da sie sich damit ja selbst am Vormarsch hindern würden. Die Ukrainer würden sich wegen tausend bis zweitausend toten Soldaten auch nicht ergeben werden. Sie würden nur noch verbissener kämpfen. Atomwaffen bringen also keine Vorteile. Giftgas hingegen hat Putin bereits des Öfteren, unter anderem in Tschetschenien, England, Bulgarien, und gegen Navalny eingesetzt. Vor den Atomwaffen setzt Putin Novichok ein.
Wie entwickelt sich die Fluchtbewegung in der Ukraine? Wird es noch mehr Flüchtlinge geben?
Zu Beginn des Krieges gab es eine große Fluchtbewegung, weil alle Ukrainer ihre Frauen und Kinder in Sicherheit bringen wollten. Die Ukrainer wussten ja, dass es einen Genozid geben wird. Und viele dieser Frauen und Kinder können nicht mehr zurück. Mariupol ist beispielsweise komplett zerstört. Die Stadt sieht aus wie Dresden 1945. Städte wie Tschernihiw, Mykolajiw und Irpin wurden von den Russen mit Artillerie aufs Schwerste zerstört. Cherson und Charkiw liegen weiterhin unter russischem Trommelfeuer, auch mit Brandbomben. Täglich sterben dort Zivilisten, wenn sie sich aus den Kellern wagen, um Essen zu finden. Berdjansk und Melitopol sind unter russischer Besatzung, die Großstadt Saporischschja liegt in Frontnähe. Solange dieser Krieg dauert, können Millionen von Ukrainer nicht zurück. Sollten die Russen weiter vorrücken, flüchten weitere Millionen. Auch aus Weißrussland fliehen immer mehr Menschen vor der russisch-gestützten Diktatur. Es kann in Europa, weder Sicherheit noch Frieden geben, solange die Russen nicht besiegt sind. Russland ist eine faschistische Diktatur, die offen davon redet das alte Sowjetimperium wieder unter russische Herrschaft zu bringen. Wer russisches Fernsehen sieht, hört jeden Tag aufs neue welche Nation, welches Volk ausgelöscht werden soll, da es sich nicht Russland Willen beugt. Hier gibt es kein grau. Entweder bekämpfen wir diesen Faschismus und besiegen ihn, oder uns steht ein Jahrzehnt immer schlimmer Kriege bevor.
Quelle : Tageszeitung