Bundesinnenministerin Faeser hat als SPD-Spitzenkandidatin in Hessen ein desaströses Wahlergebnis eingefahren. Als Ministerin hingegen ist sie durchaus erfolgreich, verkauft das aber schlecht. Kanzler Scholz hält an ihr fest.
Dass Bundeskanzler Olaf Scholz sich am Wahlabend nicht zu den Ergebnissen der Landtagswahlen in Hessen und Bayern geäußert hat, ist nichts Ungewöhnliches. Das tut der Kanzler nie. Aber gerade die Wahl in Hessen war keine “normale” Wahl, weil eine seiner wichtigsten Bundesministerinnen angetreten ist. Innenministerin Nancy Faeser hat das historisch schlechteste Ergebnis eingefahren, das die SPD in der einstigen Sozialdemokraten-Hochburg Hessen je hatte. Und deswegen machen sich viele Menschen darüber Gedanken, was im Kopf des Kanzlers wohl so vorgeht.
“Meine Herzensangelegenheit ist Hessen. Ich habe 18 Jahre lang Landespolitik gemacht und ich wollte immer in Hessen etwas bewegen”, sagte Faeser, als sie Anfang Februar ihre Kandidatur als hessische Ministerpräsidentin bekanntgab. Sie sei die erste Frau an der Spitze des Bundesinnenministeriums und sie wolle die erste Ministerpräsidentin in Hessen werden.
Für die Opposition ein gefundenes Fressen. Noch am gleichen Tag stellt die Union Fragen in den Raum: Ist ihr Hessen tatsächlich wichtiger als der Job im Bundesinnenministerium? Das Innenressort ist mit das größte innerhalb der Bundesregierung – wie will sie es weiter effektiv führen, wenn sie zeitgleich Wahlkampf in Hessen macht? Und natürlich: Was ist, wenn Faeser verliert – ist sie dann auch als Innenministerin beschädigt?
Das Sicherheitsnetz des Kanzlers
Die letzte Frage beantwortet Scholz, lange bevor der Wahlkampf Fahrt aufnimmt: Sollte Faeser nicht hessische Ministerpräsidentin werden, wird sie auch nicht als Oppositionsführerin nach Hessen gehen, sondern in Berlin Bundesinnenministerin bleiben. Der Kanzler gibt ihr von Anfang an ein sicheres Rückfahrticket.
Auch Faeser sieht sich nicht als Oppositionsführerin – das habe sie ja schon viele Jahre gemacht. Am Abend der hessischen Landtagswahl wird klar: Selbst dieses Ziel war zu hoch gesteckt. Faeser wäre nicht einmal Oppositionsführerin geworden, denn das wird die AfD. Setzt dieses Ergebnis den Kanzler mit seinem Rückfahrticket nicht doch unter Druck?
Der hinkende Röttgen-Vergleich
Faeser ist nicht die erste Bundesministerin, die aus ihrem Amt heraus einen Wahlkampf auf Landesebene führt. 2012 trat der damalige CDU-Bundesumweltminister Norbert Röttgen als Kandidat für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen an. Er wollte als Ministerpräsident nach Düsseldorf gehen.
Auch Röttgen fuhr das zu diesem Zeitpunkt historisch schlechteste Ergebnis der CDU in Nordrhein-Westfalen ein. Wenige Tage später wurde er auf öffentlichen Druck hin von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel entlassen.
Der Vergleich zu Faeser hinkt dennoch. Denn im Fall Röttgen standen weder Partei noch Kanzlerin hinter seiner Kandidatur. Außerdem wurden ihm Ambitionen auf das Kanzleramt nachgesagt, wofür er die Zwischenstation als Ministerpräsident gut hätte gebrauchen können. Beides ist bei Faeser nicht der Fall.
Auf der Pro-Liste
Scholz hat sich in den vergangenen Monaten immer wieder klar hinter seine Innenministerin gestellt. Welche Punkte könnten also auf der imaginären Pro- und Contra-Liste des Kanzlers stehen?
Immer wieder führt er ihre Erfolge auf europäischer Ebene an: Faeser ist es gelungen, das lang ersehnte Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) auszuhandeln. Daran sind viele vor ihr gescheitert. Als es bei dem Thema Knatsch mit den Grünen gab, hat Scholz ihr den Rücken gestärkt.
Auch Faesers entschiedenen Kampf gegen Rechtsextremismus betont nicht nur der Kanzler, sondern auch SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert. Erst kürzlich hat sie die “Hammerskins” und den rassistisch-völkischen Verein “Artgemeinschaft” verboten und auflösen lassen.
Außerdem hat ihr Haus einige wichtige Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht oder bereits abgeschlossen: das Fachkräfteeinwanderungsgesetz oder die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts zum Beispiel. Aus Sicht des Kanzlers arbeitet seine Innenministerin wahrscheinlich effektiv und durchsetzungsstark.
Die leise Nancy
Das Problem ist aber: Der Blick des Kanzlers und der Blick der Bevölkerung auf Faeser dürften sich massiv voneinander unterscheiden. Es gelingt ihr einfach nicht, ihre Erfolge zu verkaufen – gerade nicht im rechts-konservativen Lager.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts. Zwar geht es demnach schneller, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten, weil Fristen verkürzt wurden. Gleichzeitig hat aber Faeser die Hürden für den schnelleren Erwerb der Staatsbürgerschaft so hoch gesetzt, dass es starke Kritik aus dem linken politischen Spektrum gegeben hat. Zum Beispiel macht die Reform eine Einbürgerung in die Sozialsysteme nahezu unmöglich, weil man den Antrag nur stellen darf, wenn man sich und die vielleicht vorhandene Familie selbstständig und ohne staatliche Hilfen finanzieren kann. Für die schnellere Einbürgerung wurde auch die Vorgabe an das erforderliche Sprachniveau hochgesetzt auf das Level, das notwendig ist, um an einer deutschen Uni zu studieren.
Doch nur einen Tag später gab die AfD eine Pressekonferenz und forderte für den Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft genau das: Keine Einbürgerung in die Sozialsysteme, und die Migranten sollen “sehr gut” Deutsch sprechen. Dass diese Forderungen im Gesetzentwurf schon umgesetzt sind, lächelte die AfD weg. Die Union polterte weiter, Faeser würde die deutsche Staatsbürgerschaft “verramschen” – obwohl es ja das im Vergleich laschere Gesetz der Großen Koalition war, das Faeser mit der Reform teils verschärft hat. Und tatsächlich: Die Opposition ist lauter, sie kann die öffentliche Diskussion stärker bestimmen als die Bundesinnenministerin.
Auf der Contra-Liste
Auf der imaginären Kontra-Liste des Bundeskanzlers müsste also stehen: katastrophale Kommunikation – nicht nur, weil sie ihre Erfolge nicht verkaufen kann. Auch ihr Umgang mit aktuellen Themen wirkt manchmal nicht zu Ende gedacht. Anscheinend kann sie das Empörungspotenzial in der Bevölkerung und der Opposition oft nicht richtig einschätzen.
Zum Beispiel hat ihr Umgang mit dem geschassten Chef der Bundesanstalt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), Arne Schönbohm, die SPD bei der Landtagswahl sicherlich Stimmen gekostet. Immer wieder erhob die Opposition den Vorwurf, Faeser habe den Verfassungsschutz zum Spionieren auf Schönbohm angesetzt – was sie natürlich nicht darf, was ein massiver Missbrauch der Nachrichtendienste wäre. Faeser bestritt das immer wieder.
Als endlich der Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, bestätigte, dass Faeser sich korrekt verhalten habe, war es schon viel zu spät. Die Union und auch die AfD hatten die Debatte so viele Wochen lautstark vorangetrieben, dass Haldenwang kaum noch zu hören war.
Vielen stieß sauer auf, dass Faeser den Innenausschuss wochenlang warten ließ, um dessen Fragen zu Schönbohm zu beantworten. Das machte sie vielen verdächtig, es blieb an ihr haften. Dabei ging völlig unter, dass Faeser dem Innenausschuss schon Wochen vor dessen ausdrücklicher Einladung dazu Rede und Antwort stehen wollte. Sie war mehrfach da, ohne, dass man ihr Fragen gestellt hatte. Deswegen ging sie später nicht mehr hin. Vielleicht spielte Trotz eine Rolle, vielleicht hatte sie tatsächlich einen Arzttermin – aber der öffentliche Effekt dieser Entscheidung war katastrophal.
Die Erfolge der AfD
An dieser Stelle muss man auch auf das Ergebnis der AfD in beiden Bundesländern schauen. Denn es besteht ein Kausalzusammenhang zwischen Innenministerium und AfD-Erfolg. In Hessen und Bayern wurden die in Teilen rechtsextreme Partei zweitstärkste Kraft, und zwar auch mit dem Thema Migration. Zweifelsfrei ein wichtiges Thema, die Kommunen ächzen nach wie vor unter der Verantwortung dafür, immer mehr Menschen gut zu versorgen.
Neben der Migrationspolitik gibt es aber weitere drängende Probleme in diesem Land. Etwa die Lage der Wirtschaft, die Bildungsmisere, die Wohnungsnot. All diese Probleme hätte Deutschland auch ohne Migration. Weil aber alle etablierten Parteien bereitwillig über das Stöckchen der AfD gesprungen sind, konnte diese mit der Migrationspolitik Wahlkampf machen.
Faesers Argumentation geht oft ins Detail, wird aber genauso oft durch vermeintlich einfachere Lösungen übertönt. Zum Beispiel beim Thema stationäre Grenzkontrollen. Faesers – durchaus nachvollziehbare – Erklärung, warum fest installierte Kontrollen an der Grenze zu Österreich Sinn ergeben, aber an den Grenzen zu Polen und Tschechien eben nicht, wurde größtenteils überhört.
Wenn sie aber ihre Ideen und Erfolge nicht verkaufen kann, stärkt das die AfD. Deren Wahlergebnisse sind natürlich nicht ihre alleinige Schuld. Auch die Union muss sich vorwerfen lassen, dass sie mit einem Thema in den Wahlkampf zieht, das emotional aufgeladen ist und polarisiert. Genauso wie die Ampel sich fragen müsste, ob sie nicht lieber hinter geschlossenen Türen streiten sollte.
Trotz allem wackelt Faeser nicht
Trotz des desaströsen Wahlergebnisses in Hessen wackelt der Stuhl der Bundesinnenministerin nicht. Die Parteigremien haben ihr nach der Wahl den Rücken gestärkt. Der Regierungssprecher Steffen Hebestreit lässt einen Tag nach der Wahl vom Kanzler ausrichten, dass er weiter an ihr festhält.
Scholz hatte sein Rückfahrtticket immer vom Wahlergebnis unabhängig gemacht. Vielleicht ist er sogar heimlich erleichtert, dass er Faeser nicht nach Wiesbaden ziehen lassen muss. Denn gute Innenpolitikerinnen sind in der SPD schwer zu finden.
Nach dem paritätischen Prinzip hätte für Faeser eine Frau nachrücken müssen, die nahtlos ihre Aufgaben hätte übernehmen können – und so eine drängt sich nicht gerade auf. Der Kanzler hat also viele gute Gründe, an Faeser festzuhalten. Historisch schlechtestes Wahlergebnis hin oder her.